Ikonostase
In der Wintringer Kapelle ausstellen zu können, ist wie ein Versprechen, das sich in Glück verwandelt. "Pèlerinage- mit den Augen pilgern" hiess es im Jahr 2005, als an den Wänden der Kapelle Miniaturen meiner Malerei zu sehen waren. In diesem Jahr konzentrierte sich meine Idee auf eine grosse, mehrteilige Arbeit, die vor der Apsis als Bilderwand aufgestellt wird. Der Besucher der Kapelle wird dort stehen bleiben, wo der Raum sich einst sakral definierte: an der Stelle eines Altars oder, wie in der christlich-orthodoxen Kirche, vor einer Ikonostase.
Eine Ikonostase, wörtlich ein "aufgestelltes Bild", grenzt den Gemeinderaum vom Altarraum völlig ab, deren drei Türen sich nur selten bei bestimmten Ritualen öffnen. Jene Funktionen wie auch die Heilsgeschichte selbst, das fürbittende Personal oder auch die Märtyrer auf den zahlreichen Ikonentafeln, spielen in meiner Arbeit keine Rolle mehr. "Meine Ikonostase" erzählt von Himmel und Hölle auf der Erde und ihren Bildern in der Kunst. Der Raum der Kapelle animierte mich, die lang gehegte Idee eines grossen Bildes zu verwirklichen. 48 einzelne Tafeln verteilen sich auf zwei Hälften. Auf der linken Seite Bilder zu Gefahren, Gewalt und Tod; rechts Bilder mit Hoffnungen, Freude, Glück. Ich fühle mich wie ein Augenzeuge jener Bilder im Alltag und in der Geschichte der Kunst, zu denen ich nicht schweigen kann. Sondern weitererzählen, wie dies bei Mythen üblich war.
In der aktuellen Kunst wird demnächst ein sterbender Mensch als Teil eines Kunstwerks zur Schau gestellt, was die Erregung der Betrachter steigern wird. Ein paar Jahre zuvor kauften zwei englische Künstler den Radierzyklus "Desastres de la Guerra" von Francisco Goya (es existieren sieben), um dann 80 Grafiken zu überarbeiten und zu "verbessern". Der Schauer, den Goyas von Gewalt verwüstete Gestalten auslösen, hatte ihnen nicht genügt. Ich sehe darin provokante Prestigeformen, die mit ihrer Unempfindlichkeit leibhaftig Sterbende und gezeichnete Sterbende zu Spielzeug degradieren.
In meine Arbeit fliessen Werke anderer Künstler und Kulturen ein, ohne dass ich mit ihnen "sprachlich" konkurriere. Ich zitiere Fresken des sienesischen Künstlers Ambrogio Lorenzetti aus dem Mittelalter oder Bilder von Paul Gauguin. In den Zitaten bleiben künstlerische Mittel und Überzeugungen des anderen Werks lebendig, auch wenn sich die Bilderzählung wandelt.
Mit der Viefalt der Bildquellen entwickelte sich ein besonderes Bildkonzept: 48 Bilder führen sich in einem je 20x20cm kleinen Feld selbst auf, das aussen durch monochrome Malerei beruhigt wird. In monatelanger Arbeit wurde mein Malen mit der Hand zu einer Berührung, begleitet von meinem Mitempfinden für Schönheit, für Friedliches, für Verletzungen, für die Ohnmacht der Opfer, für das Leid. Es ist nicht irgendeine Polarität des Lebens, die mich interessierte, sondern ein vertiefter Blick auf die kostbare und oft grausam ausgelöschte Existenz des kleinen, sterblichen Individuums.
Saarbrücken, April 2008. (Text aus dem Brevier zu PER ANNUM 2008)
Linke Hälfte der Ikonostase Bilder 1- 24
Nichtschöner Kahlschlag am Amazonas. 26 000 qkm pro Jahr für Soja-Anbau. FR, 20.5.2006, Artikel von Wolfgang Kunath.
Verbrannt. Am 16.März 1244 sterben 200 Katharer auf dem Scheiterhaufen vor der Burg Montségur (Ariège), als Ketzer vom Papst und französischen König verfolgt.
Eroberung des Untergrunds. Aushöhlung des Berner Oberlands mit Eiger, Mönch und Jungfrau. SZ, Januar 2008, Artikel von Gert Zitzelsberger.
Nachtgespenster. Fledermaus zitiert nach F.Goya, Der Traum der Vernunft, Capriccio Nr.43,1797-98, Radierung und Aquatinta, 216x152mm.
Orco- Schlund in die Unterwelt. Zitat aus dem manieristischen"sacro di bosco" (um 1550) in Bomarzo(Umbrien).Inschrift: "ogni pensiero vola…laßt jede Hoffnung…".Zitat aus einem Vers in Dantes "Göttlicher Komödie".
Stalingrad. Von 91 000 Kriegsgefangenen (1943) kehrten 6000 zurück. FR, 20.11.07 und Die Zeit, 2.2.1973.
Nagasaki. Am 9. August 1945 wurden beim Atombombenabwurf 140 000 Menschen getötet. SZ, 6.8.2007: "Sie sterben alle und niemand weiß warum." Artikel von Christoph Neidhardt.
Erschossen. Erschießungen von Zivilisten in Cuprijia (Serbien). Katalog "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Deutschen Wehrmacht 1941-1944". Hamburg 1996, S.202. Abb. 4.
Gezeichnet. Systematische Ermordung der Juden ab 1941 in Weißrußland. Katalog, ebenda: S.199, Abb.6.
Konradin. Öffentliche Hinrichtung Konradins, des letzten, sechzehnjährigen Kaisers der Staufer, am 29.10.1268 auf dem Marktplatz von Neapel durch Karl von Anjou, im Interesse des französischen Königs und des Papstes. Zitat: Fresko aus dem Tour Ferrande in Pernes-les-Fontaines, 13. Jhdt., Provence).
Die Folgen der schlechten Regierung I. Menschenleer. Zitat nach: Ambrogio Lorenzetti, Fresken im Palazzo publico, Siena, etwa 1335.
Kain und Abel. Zitat nach einer von16 Tafeln der Bronzetür von St. Michael in Hildesheim, 1015. (Zwei Türflügel mit Konkordanz aus altem und neuen Testament)
Die Folgen der schlechten Regierung II. Timor - der Schrecken. Zitat nach Ambrogio Lorenzettis Fresken im Palazzo publico in Siena,um 1335.
Der erloschene Stern. "Luzifer zerstörte in sich selbst die innere Schönheit, deren Erekenntnis ihm zum Guten hätte dienen können, und streckte sich gierig nach der Bosheit aus, die ihn in ihren Schlund zog. So erlosch er für die ewige Herrlichkeit und stürzte in immerwährendes Verderben...". (Hildegard von Bingen, Seherin des Lichts, Scivias - Wisse die Wege, Salzburg 1954, S.222)
Minotaurus. Mythologische Figur. Monströses Kind der kretischen Königin Pasiphae, die einen schönen weissen Stier begehrte.
Kleiner Wächter. Zitat aus: Piero della Francescas (1420-1492) "Der Traum Konstantins", ein Bild aus dem Freskenzyklus zur Kreuzeslegende im Chor von San Francesco in Arezzo, vollendet vor1466.
Rechte Hälfte der Ikonostase Bilder 25 – 48
Sie möge leben. Hieroglyphen-Inschrift in einem Privatgrab, die der Königin Ames-Nefertari zugeordnet ist. Verehrt als Göttin. (Theben-West, um 1370 v.Chr.)
Die Folgen der guten Regierung. Zitat aus Ambrogio Lorenzettis Fresken im Palazzo publico in Siena, um 1335.
Sterne. 7 Sterne aus Orten, die am Jakobsweg zwischen Hornbach und Metz liegen: Hombourg-Haut, St. Arnual, Kirkel, Wörschweiler, Güdingen, Habkirchen, Blieskastel.
Kindheit der Ariadne. Nach einer Ritzzeichnung aus Pontevedra (Galizien), Ende der Bronzezeit. H.Kern: Labyrinthe, München 1982, S.91
Paradies mit bösem Geist. Verändertes Zitat nach Gauguins Bild "Dort liegt der Tempel", parahi te morae, 1892, 68x91cm, Philadelphia.
Liebespaar. Verändertes Zitat nach Paul Gauguins Aquarell (11,5x23cm) auf einem Druckbogen von "manao tupapao" des Manuskripts von "noa noa". Katalog Paris 1989, Abb. 186, S.349.
Haus der heiligen Frauen. Grundriss des Tempels "Gigantija" auf Gozo/Malta, Megalithkultur, um 3.500 v. Chr.
Frau am Meer. Zitat nach Paul Gauguins Zeichnung "Femme de la mer", Kat. Paris, 1989, Abb. 144, S.263
Weibliche Gottheit. Kretische Erdgottheit mit Schlangen aus einer unterirdischen Schatzgrube in Knossos, Fayence, 25,9 cm, mittelminoisch, 1600-1580. Sp. Marinatos, M.Hirmer: Kreta, Thera und mykenische Hellas, München 1986, Abb. XXV
Schöne kleine Welt. Verändertes Zitat nach Fayencen im Museum in Heraklion, sog. Stadtmosaik aus Knossos. (um 1600 v.Chr.)
Stillen. Ambrogio Lorenzetti, Madonna con latte, um 1310, Siena, Erzbischöfl. Palast, 90x48cm, Abb. in E. Carli: Toscan. Malerei des14. Jhdts., Luzern/Wien, 1963, S.79
Wärmt sich in sich. Zitat nach einer russischen Ikone "Christi Geburt", Tempera/Holz, 90,5x66 cm, Staatl. Museum, Kreml, Moskau. Teil einer Ikonostase, 1. Drittel 15. Jhdt.
Als die Erde noch die Welt war. Zitat nach einer alten Karte aus der Antike, mit Atlantis als Insel im Westen.
Alle Bilder 20 x 20 cm, Buchbinderkarton, Acryl, Tempera, entstanden in La Lilette, Januar - April 2008